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Dorothee Roos zur Enthüllung der Bronze-Statuen am 4. Juli 2003

 Familien-Aufstellung

Skulpturengruppe vor dem Rathaus in Seckach (vor der Enthüllung)

  Familien-Aufstellung” ein bewegliches und bewegendes Kunstwerk

“ Die Familie ist die Keimzelle des Staates “. Mit diesem oft zitierten, manchmal auch ideologisch aufgeladenen Satz wird eine einfache Wahrheit ausgedrückt: Die Familie bildet die früheste, urtümlichste, quasi-natürliche Organisationsform menschlicher Gemeinschaft. Aus Familien baut sich die Gemeinschaft auf; umgekehrt spiegeln sich Art und Zustand der Gesellschaft, der sie angehört, in der Familie und den Beziehungen der einzelnen Familienmitglieder nach innen und außen wider. Dabei spielt der Staat eine wichtige Rolle; aber auch vorstaatliche Gesellschaften bzw. gerade sie haben die Familie als Keimzelle.
So gesehen, ist es eigentlich merkwürdig, dass relativ wenige Werke der Bildenden Kunst Familienbeziehungen als Ganzes zum Thema haben – sieht man einmal von des Sondersituation der sogenannten „Heiligen Familie“ ab. Sehr viel öfter findet man da gegen Paarbeziehungen sowie Eltern-Kind-Beziehungen dargestellt, allerdings häufiger in der Malerei als in der Plastik.
Schon von daher nimmt das neueste Werk "Familienaufstellung" der Seckacher Bildhauerin Marianne Wagner eine gewisse Sonderstellung ein. Mit vier Bronce-Figuren umfasst es eine
komplette Familie, das spannungsvolle Viereck von Vater, Mutter, Sohn und Tochter – noch immer das deutsche Durchschnitts-Familien-Ideal (welches allerdings nicht mehr das gesellschaftliche Normalmaß darstellt, doch das ist eine andere Geschichte).

Doch vollends zum Ausnahmekunstwerk wird „Familien-Stellung“ durch die Tatsache, dass die Beziehung der einzelnen Figuren nicht ein für alle Mal fest liegt, sondern durch den Betrachter verändert werden kann. Damit gewinnt die Figurengruppe eine Dynamik, der man sich nicht entziehen kann: kaum ein Betrachter wird es versäumen, die Personen zu bewegen. Und wer das tut, wird sogleich feststellen, auf welch faszinierende Weise sich das Beziehungsgeflecht der Personen und damit Ausdruck und Aussage der Figurengruppe insgesamt wandeln.

Wer dieses Angebot zum aktiven Ein-Griff wahrnimmt, betritt gleichsam den familiären Raum, kommt den lebensgroßen einzelnen „Familienmitgliedern“ auf Augenhöhe nah, empfindet im eigenen Körper ein Stück der Spannung mit – und kann wieder zurücktreten und aus einer gewissen Distanz sein Werk anschauen. Damit tritt der Betrachter aus der passiven Zuschauer-Rolle heraus und wird zum „Mit-Künstler“; und natürlich bleibt es nicht aus, dass seine eigene Familien-Geschichte in sein Tun einfließt. Denn je nach seinen persönlichen Erfahrungen wird er den Figuren mehr oder weniger Chancen geben, sich einander zuzuwenden und in Austausch zu treten.

Allerdings wird sich eine völlig „heile“ Familie nicht herstellen lassen, das verhindert schon der Charakter der einzelnen Figuren, deren geschlossene und kompakte Formen zwar, im Wortsinn, viel Projektionsfläche bieten, denen Marianne Wagner aber durch Konstellation, Gesichtsausdruck und Körperhaltung auch schon bestimmte Ausdrucksqualitäten mitgegeben hat.
Das familiäre Spannungsfeld birgt in sich ein engeres Dreieck von Vater, Mutter und kleiner Tochter, während sich der offensichtlich pubertierende Sohn ein wenig abseits hält. Je nach Wunsch wendet sich der Sohn aus seiner vierten Ecke halb sehnsüchtig, halb trotzig der Trias zu oder kehrt ihr den Rücken – natürlich sind dazwischen viele Abstufungen möglich.

Alle Figuren sind um die eigene Achse um 360 Grad drehbar, kreisen also gleichsam um sich selbst – damit ist auch bereits eines ihrer Probleme benannt (und ein gesellschaftliches gleich mit). Denn offensichtlich sind zumindest die drei „Großen“ nicht sehr offen, nicht sehr bezogen und beziehungsfähig, sondern eher ein bisschen eigenbrötlerisch bis egoistisch. Das kleine Mädchen reckt dagegen fordernd oder bittend die Arme hoch – man kann das ebenso als „Quengeln“ wie als dringenden Wunsch nach Kontakt interpretieren. Die Kleine könnte drei bis vier Jahre alt sein, ihr weicher und rundlicher Körper unterscheidet sich deutlich von der strengen, hochmütigen Erwachsenheit der anderen. Ob sie sich eher dem Vater oder der Mutter (oder beiden) zuwendet, liegt im Ermessen des „Bewegers“; doch auch der fern gerückte


Bruder könnte der Adressat ihrer Wünsche werden...

Der Vater ist gewiss kein Patriarch; das Leben scheint ihn gebeutelt zu haben, auf Nacken und Schultern liegt eine Last, die sein schmaler, wenig raumgreifender Körper nur unter Anstrengung zu tragen vermag.
Seine Hände liegen eng an den Seiten, als wolle er sich dünn machen vor den
Anforderungen des Lebens und der Familie. Sein Gesichtsausdruck wirkt eher müde und resigniert, ein Zug von Bitterkeit ist unverkennbar. Doch ob er noch Kontakt zu seiner Frau und den Kindern hat, entscheidet nicht er allein...

Die Frau hat ebenfalls einen hochgewachsenen und schlanken Körper; sie schaut geradeaus, wirkt aber auch in sich versunken bzw. gesammelt. Ihr
sanftes Gesicht scheint sich zu verändern, je nachdem, wie man sie dreht – es kann sich gleichmütig abwenden, aber auch still und gleichsam lauschend auf „Ansprache“ warten. Ihre Körperhaltung drückt eher Selbstbewusstsein aus, ebenso wie die in ihren Taschen vergrabenen Hände. Ob sie in der Familie „die Hosen anhat“? Oder ob ihre Haltung abwehrend gemeint ist? Jedenfalls ist ihr wenig Mütterliches eigen, doch wirkt sie insgesamt weniger verschlossen als ihr Partner

Der große Sohn, überschlank und schnell hochgeschossen, ähnelt seinem Vater. Doch genau das scheint
ihn zu stören, die Stürme der Pubertät beuteln ihn sichtlich, bei aller trotzigen Haltung hat er doch noch keinen rechten Stand-Punkt gefunden. Er ist ganz deutlich nicht mehr Kind, aber auch noch nicht Erwachsener, und seine Unsicherheit ballt ihm die Fäuste in den Taschen und zieht ihm die Brauen zusammen...
Aber vielleicht verbirgt sich unter dieser abweisenden Oberfläche dringender Wunsch nach Zuwendung und Beachtung, den er nicht mehr so unverstellt äußern kann wie seine kleine Schwester

Doch ob die Familie zerfällt, ob jeder ganz für sich bleibt oder sich einzelne Untergruppen bilden, ob die Konflikte gelöst werden können, ob insgesamt Miteinander oder Gegeneinander dominieren, das ist durchaus noch offen.
Marianne Wagner hat es verstanden, die Ausdrucksqualitäten anzudeuten, ohne ihre Figuren bis ins Letzte festzulegen. Die Figuren wirken realistisch und stilisiert zugleich, sie „gefallen“ nicht auf den ersten Blick und biedern sich beim Betrachter nicht an. Zwischen ihnen und den Familien der Werbeserien und Soap-Operas liegen Welten. Aber seltsam – gerade in ihrer Fremdheit liegt ihre Anmutung, ihr Aufforderungscharakter. Wenn sie allzu nah oder allzu eindeutig wären, dann fehlte jenes Quäntchen Distanz, das man ja braucht, um ihre Konstellation zu verändern.

„Familien-Aufstellung“ in der Nachfolge des kreativen Theologen und Psychologen Bert Hellinger ist ja auch eine sehr wirksame Methode der Familientherapie. Aus der Art wie Stellvertreter der eigenen Familienangehörigen im Raum verteilt werden, können Rückschlüsse auf verborgenen Konflikte gezogen werden. Zwar können die Bronzefiguren die Gefühle nicht mitteilen, die unterschiedlichen Konstellationen in ihnen wachrufen. Aber es ist erstaunlich und fast schon ein wenig unheimlich, welch starkes Echo die unterschiedlich aufgestellten „Familienmitglieder“ dieses Kunstwerks im Betrachter und der Betrachterin wachrufen.
Auch in der Behandlung des Materials hält Marianne Wagner diese Balance zwischen Nähe und Distanz. Die Körperumrisse aller Figuren sind einfach, stilisiert, sparsam, vertikale Linien beherrschen die Skulptur. Doch die Oberfläche der Bronze erscheint stumpf, manchmal geradezu borkig und lässt an Holz oder andere organische Materialien denken, denen eine gewisse „Wärme“ eigen ist. Durch Polieren einzelner Teile setzt die Künstlerin dann kleine Glanzlichter, insbesondere modelliert sie so die Gesichtszüge. Dies lässt einerseits den Metallcharakter hervortreten, andererseits gewinnen die Figuren so ganz persönliche Züge, die man sofort bemerkt, wenn man sich mit ihnen „auf Augenhöhe“ begibt.

Marianne Wagner hat ein in jeder Hinsicht „modernes“ Kunstwerk geschaffen. Es spiegelt die Krise einer uralten Lebensform, die „Atomisierung“ der Familie, die Ich-Bezogenheit in der Gesellschaft, aber es hält auch Lösungsmöglichkeiten bereit, ohne sie vorzuschreiben – es bleibt also strukturell offen. Gleichzeitig bedeutet es uns, dass aktives Handeln erforderlich ist, so oder so, in jede Richtung. Dabei ist die Skulptur, anders als viele andere Werke moderner Kunst, für den Betrachter sofort verständlich – und doch prinzipiell unausschöpfbar.

Dass die Gruppe nicht in Museum, sondern in den öffentlichen Raum gehört, liegt auf der Hand. Familien sind in Bewegung, verändern sich, starre Strukturen lösen sich auf; noch ist die Dynamik diese Prozesses nicht absehbar. Mit der Familie und ihren Problemen muss die Öffentlichkeit, müssen Staat und Gesellschaft umgehen. Und ist nicht auch die Kommune eine „Keimzelle des Staates“? In der Familie werden die Grundlagen für soziales Verhalten gelegt, das Maß an Zuwendung oder Liebesentzug prägt die Persönlichkeiten der Menschen, die dann als Bürgerinnen und Bürger das Gemeinwesen bilden.
Ein Kunstwerk kann Menschen nicht verändern, aber es kann auf Veränderungen reagieren, sie spiegeln und die Betrachter nachdenklich machen. Doch über Nachdenklichkeit geht die Wirkung von „Familien-Stellung weit hinaus - die Bronzegruppe aktiviert Kräfte, die zunächst das Kunstwerk selbst verwandeln, aber letztlich den Betrachter oder die Betrachterin auch.

Frühjahr 2003, Dorothee Roos - Mosbach/Baden